Viele Menschen haben in den Monaten der Pandemie die gleiche schmerzhafte Erfahrung gemacht: Nicht dort sein können, wo man gebraucht wird. Aus meinen Gesprächen als Seelsorger wie auch aus eigener Erfahrung kenne ich die Verzweiflung der Angehörigen, die Verwandte, Kranke oder auch Sterbende nicht besuchen konnten. Alte Menschen, die durch die Schutzmaßnahmen vereinsamen, Todkranke, die in ihrem Elend allein sind, Sterbende, von denen über Videochat Abschied genommen werden musste.
Die zeitweise rabiaten Einschränkungen des Besuchsrecht waren und sind mit Sicherheit großteils berechtigt, doch schmälert dies nicht das Leid der Verlassenen und auf Abstand Gehaltenen.
Das Werk „Verlassen“ gibt diesen schmerzlichen Erfahrungen Raum. Es legt die erzwungene Leere schonungslos offen, zeigt die Verlassenheit aller Beteiligten und transzendiert die Leiderfahrungen der Pandemie.
Durch die Positionierung im Kirchenraum, dem Kontrast der lichterfüllten Kirchenfenster, der Parallele zur Kreuzigungsszene und dem Öffnen des Werkes in den Kirchenraum, verharrt das Werk nicht in der Hoffnungslosigkeit, sondern findet Gott gerade in der tiefsten Verlassenheit wieder.
PSALM 22
2 Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen,
bleibst fern meiner Rettung, den Worten meines Schreiens?
3 Mein Gott, ich rufe bei Tag, doch du gibst keine Antwort;
und bei Nacht, doch ich finde keine Ruhe.
12 Sei mir nicht fern, denn die Not ist nahe und kein Helfer ist da!
16 Meine Kraft ist vertrocknet wie eine Scherbe,
die Zunge klebt mir am Gaumen, du legst mich in den Staub des Todes.
20 Du aber, HERR, halte dich nicht fern! Du, meine Stärke, eile mir zu Hilfe!
Das Werk „Verlassen“ wirft auf vier unabhängig platzierten Leinwänden (I, II, III und IV) Schlaglichter auf ein dramatisches Geschehen. Verbunden wird die fragmentierte Szene durch den dunklen Hintergrund und die grell-orangene Rahmung.
Der Blick wandert zunächst auf den fahlen Korpus (III), der sich frei vor dem düsteren Hintergrund aufspannt. Die Arme sind ausgestreckt, der Kopf in der Dunkelheit verborgen. Entblößt – entindividualisiert – entkräftet. Der Brustkorb hebt sich, doch der Körper versteift sich – ringt um Atem – erstickt.
Trotz fehlender Nägel und Wunden ist die Assoziation mit dem gekreuzigten Christus unmittelbar, jedoch nur eine der Deutungsmöglichkeiten. Dennoch meint man am linken Rand der Installation (I) Maria und Johannes zu erkennen – die Angehörigen des Sterbenden sind beinahe aus dem Bildfeld gedrängt, obwohl ihr Platz doch bei dem Verlassenen wäre.
Isoliert, um Atem kämpfend, verlassen – so ist nicht nur Christus am Kreuz. Maria und Johannes, sie stehen für die Eltern, die Ehefrau, die Kinder der Sterbenden. Erstarrt oder in sich versunken sind sie gefangen in ihrem Käfig aus Neonorange; zwischen ihnen und dem geliebten Menschen klafft eine leere Finsternis (II). Der Sterbende ist weggesperrt – die Trauerenden ausgesperrt. Was bleibt ist die schmerzende Leerstelle umgeben vom warnenden Farbquadrat.
Das unheilvolle Schwarz der Komposition setzt sich zwar auf der letzten Leinwand (IV) fort, reißt jedoch auf und legt eine goldene Fläche frei. Umrahmt von einem Wolkenband lenkt das erlösende, ja österliche Gold den Blick in die Weite des umgebenden Kirchenraumes. Über die strahlenden Kirchenfenster und die umgebenden Heilsbilder weist „Verlassen“ so über den Schmerz und das Leid zum Heil und dem uns versprochenen Sieg des Lebens.
Text: Raoul und Katharina Roßmy
Raoul Rudolf Maria Rossmy | www.rrmr.de | raoul.rossmy@gmx.de